01100101, oder: Tocqueville im Informationszeitalter

Hinter den Mustern liegt heute die Granularität, hinter ihr wiederum der Einzelnutzer verborgen. In der Analyse seines Verhaltens liegt der Schlüssel zu seinen Bedürfnissen und Interessen. Was Indizes und Matrizen der Nutzerinteressen nicht vermocht haben, das individuelle Referenzaufkommen ermöglicht es: Die Durchdringung des Sozialraumes entlang von Kennzahlen bis hin zu den individuellen Entscheidungsmustern seiner Protagonisten, vermessen von ihren Politischen- bis hin zu ihren Geschmacksmustern.

„Der Begriff des Staates vereinfacht sich“, schreibt Tocqueville angesichts einer neuen demokratischen Welt: „Die bloße Zahl macht Recht und Gesetz. Die ganze Politik reduziert sich auf eine arithmetische Frage.“[1]

Relationalität und Referenzen sind als Metrics und Quants die neue Währung der Gegenwart. Sie bilden als algorithmische Schleier die Einstiegspunkte eines feingesponnenen Netzes, welches Alle über maximal drei Instanzen miteinander in Beziehung zu setzen vermag. „Die Prognosen des Grafen Alexis de Tocqueville am Beginn des industriellen Zeitalters“[2], haben der Anatomie des modernen Gemeinwesens Körperlichkeit verliehen. Ihnen entspringt das Bild einer Gesellschaft, deren Akteure auf eine bislang unbekannte Art und Weise Gestalter des eigenen Schicksals und Unterworfene überkomplexer Kräfte sind. Die Instrumente zu ihrer Beherrschung entstammen dem, was sich aus der unmittelbaren Gegenwart formen lässt und den Traditionsbeständen kontinentaleuropäischer Prägung.

Bis in die feinsten Muster des Privaten hinein wirken die kollektiven Mechanismen der Gleichheit, bis in das Denken, Fühlen und Handeln einer dekonstruierten Sozialwelt und ihrer semantischen Muster. In der Demokratie ist die Sprache das wichtigste Mittel zur politischen Willensbildung, ihr wichtiges Merkmal der Diskurs und die Fähigkeit zur Kompromissbildung. Wer in eine Hierarchie eintritt, folgt einem Rollenmuster; wer Verantwortung übernimmt, wird an den Folgen seiner Taten gemessen. Das von Algorithmen handhabbar gemachte Netzwerk einer modernen, globalen Gesellschaft muss alle ihm zugrundeliegende Relationalität quantifizieren, um allerorts vergleichbar zu sein. Seine Einstiegspunkte sind gleichzeitig seine Referenzen; sie bilden eine Art wechselseitige Dechiffrierung zwischen sozialen Agenten und ihren Referenzsystemen.

Wie manifestiert sich diese Transformation in Denken, Fühlen und Handeln, wie findet sie in den habitudes du cœur Ausdruck? Auf der Ebene regionaler Zusammenkünfte, in denen eine soziale und politische Ordnung ihre Körperlichkeit gewinnt, ist die aktive Teilhabe der passende Gradmesser für ein Vorhandensein deliberativer und kollektiver Prozesse. Emergente Muster bilden hier als Ausdruck und Metapher einer Selbstdeutung als Entdecken im Handeln der beteiligten Protagonisten die Vorstufe der interdependenten Netzwerke. Mit der zunehmenden Verbreitung überregionaler Publikationen, die auf lokaler Ebene ein Element der Plattform sind, auf der Positionen öffentlich gemacht werden können und Aushandlungsprozesse Referenzen und Einordnung in die Debatte erfahren, hat sich das Wesen der Debatte nachhaltig verändert. Surowiecki schreibt[3]:

Keep your ties loose.

Keep yourself exposed to as many diverse sources of information as possible.

Make groups that range across hierarchies.

Der Einfluss der Demoskopie hat die Qualität öffentlicher Debatten nachhaltig verändert. Der Wert tagesaktueller Meinungen hat dabei die vormalige Positionierung zunehmend überlagert und einen eigenen Wirkungsraum besetzt, in dem er als Platzhalter für einen tatsächlichen Dialog steht. Repräsentativ besetzte Panel (“Deliberative Polling“) möchten ein Ausweg aus diesem Dilemma sein, wie Fishkin es beschreibt.[4] Sie sollen den Aushandlungsprozess strukturieren helfen, indem sie einzelne Diskurselemente einem rationalen Duktus unterziehen. Gleichzeitig, und diese Ambivalenz ist ein feststehender Beleg für die Reichweite der Tocquevilleschen Medienanalyse, sind sie Ausdruck kollektiver Deutungssysteme auf Grundlage beliebig interpretierbarer Zahlen, denn: Die Zusammensetzung der Panel beruht auf einem generativen Prozess, der über Algorithmen erfasst, wer später für die Mehrheit der Bürger sprechen soll. So setzt sich bis in die feinsten Glieder und Verästelungen des Gesellschaftskörpers der von Tocqueville beobachtete und dialektisch gewendete Dualismus fort, in dem sich die Wesenskräfte der Moderne begegnen. Eine aus endlich vielen Schritten bestehende eindeutige Handlungsvorschrift zur Lösung eines Problems soll uns helfen, die Wichtigkeit von Ereignissen, die Bedeutsamkeit von (sozialen, ökonomischen und politischen) Verbindungen und das Fällen von Entscheidungen vorzubereiten und schlussendlich abnehmen. In der zunächst versteckt fortschreitenden, dann exponentiell an Intensität gewinnenden Finanzkrise der Jahre 2005 – 2009 hat sich die ganze Begrenztheit eines auf Algorithmen basierenden Referenzsystems zur Herstellung von Relationalität und Abwägung von Risiken offenbart.

Für den sozialen und politischen Raum scheint sich erneut die Wahrnehmung Tocquevilles zu bewahrheiten: Sie beruhen primär auf einer Verbindung ursächlicher und qualitativer Beziehungen. Unbedingten Eigenschaften des Menschen steht ihre Handhabbarmachung in relationalen und referentiellen Wirkungsräumen gegenüber. Einem rationell-progressiven Nutzenversprechen steht die kollektive, durch das dynamische Ineinanderwirken eines wohlverstandenen Selbstinteresses fortgeschriebene Progression entgegen. Die Trennung des Einzelnen von seiner geistigen Quelle wird als Entfremdung von einem höherstehenden Selbst empfunden, die sich als Uneigentlichkeit des Menschen in seiner spirituellen und physischen Ganzheit ausdrückt. Pippin schreibt: „(…) eventually, genuine exercises of autonomy were eliminated in an ever more efficient, integrating system, and the modern self came to be formed through a struggle that ended only in submission.“[5]

Die von Tocqueville so tiefempfundene Dissatisfaktion über den iterativen Problemkomplex einer demokratischen Moderne schreibt sich im Digitalkomplex fort. Die von ihm geäußerte „Beklemmnis der Zweifel“ muss dabei nicht zu einem anti-modernistischen Bekenntnis oder grüblerischer Weltinnenschau führen. Sie kann ein Mittel sein, um Zugang zu den zugrundeliegenden Ursachen zu finden. Wenn man deren Verbindungen wiederum innerhalb ihrer quantitativen und qualitativen Zieldimensionen darzustellen imstande ist, lassen sich Schlüsse in soziale und politische Handlung überführen. Die Frage nach vorausschauender Organisation als Merkmal einer Prozessdebatte darf nicht der Eigentlichkeit als Grund des individuellen Vorhabens vorangestellt werden. Dieses Merkmal einer modernen, demokratischen Gesellschaft ist Ausdruck einer zeitlosen Debatte über ihre Substanz. Tocqueville schreibt: „Niemand ist weniger unabhängig als ein freier Bürger.“[6]

[1] Tocqueville, OC (Gallimard) 2004, Bd. 3, S. 492. Vgl. Pierre Rosanvallon, Arthur Goldhammer (Ed.):  “Democratic Legitimacy: Impartiality, Reflexivity, Proximity“, Princeton University Press, p. 12.

[2] Kiesinger, K.G.: „Die Prognosen des Grafen Alexis de Tocqueville am Beginn des industriellen Zeitalters“, in: Karlsruher akademische Reden ; N.F. Nr. 19, Vgl. http://bit.ly/eczZKb.

[3] James Surowiecki: “The Wisdom of Crowds: Why the Many Are Smarter Than the Few and How Collective Wisdom Shapes Business, Economies, Societies and Nations“ Little, Brown and Company Boston 2004.

[4] James S. Fishkin: “When the People Speak: Deliberative Democracy and Public Consultation“, Oxford University Press 2009, pp23.

[5] Über die „Dialektik der Moderne“, Vgl. Robert Pippin: “Modernism as a philosophical problem“, Blackwell 2003, pp.178.

[6] Vgl. Tocqueville, in: „Der Alte Staat und die Revolution“, Anm. S. 40.